The Meinung: Die Antwort auf die Gentleman-Kritik auf welt.de.
They love to hate Reggae!
Die Medien drehen Reggae gerne durch den Klischee-Wolf: Kiffer, Rastas, Bob Marley und in jüngerer Vergangenheit: Homophobie. Der weltweit erfolgreiche Musiker Gentleman bekam das häufig zu spüren – die FAZ beschäftigte sich zwei Zeilen mit seiner Musik und zog ihn dann zwei Seiten lang für die Geisteshaltung einer gesamten Nation in die Verantwortung. Jetzt blamiert sich die welt.de mit einer arroganten Kritik, die auch noch von einem Jamaika-Fan geschrieben wurde – die Reggae-Polizei als Volontär bei Axel Springer.
Reggae-Fans muss man verstehen: Sie erarbeiten sich die Musik selbständig, tauchen immer tiefer ein und lernen immer mehr Codes und Texte. Sie allein haben ihren Reggae entdeckt. Sie allein waren der erste Hellhäutige bei ihrem ersten Besuch in den Tropen. Da passt es manchmal nicht, wenn man den Fernseher anmacht und jemand anderes hat das alles schon erlebt. So ähnlich muss es auch Til Biermann gehen. Er hat jetzt einen Job bei Welt.de. Und eines Tages, nach diesem langen, kalten Winter in ungemütlichen Redaktionsräumen voller Termindruck und Abgabestress für unbequeme Projekte kommt endlich die erhoffte Nachricht, die innerlich mehr wärmt als das Sonnenlicht: Til Biermann springt von seinem Bürostuhl auf, sprintet über den Flur ins Treppenhaus, nimmt zwei Stufen auf ein Mal, rennt auf den Raucherbalkon und schreit mit aller Kraft in die morgendliche Großstadt: „Ich darf die Kritik über das neue Gentleman Album schreiben!“ Und denkt sich: „Na warte, der kann was erleben!“
Die CD kommt an und Gentleman nicht ungeschoren weg. In ein paar Absatzhäppchen wird der Ausnahme-Künstler von dem selbsternannten Gütesiegel-Verleiher Biermann auf nahezu beleidigende Weise gefährlich unqualifiziert niedergemacht. Es geht von der Verharmlosung der Sklaverei zur im Grunde faschistischen Theorie, dass man sich nicht Ausdrucksformen anderer Kulturkreise bedienen dürfe. Dass Gentleman auf jamaikanischem Patois singt wird als Hauptkritikpunkt über jeden einzelnen Song breitgetreten, greift bei genauer Betrachtung jedoch völlig ins Leere: Ja, Gentleman singt auf Patois. Na und? Das tut er doch schon immer. So, wie viele andere nicht-jamaikanische Reggae-Musiker auch. Dadurch erreicht er mehr Leute, als wenn er auf deutsch singen würde. Vielleicht singt er aber auch nur auf Patois, weil er als Jugendlicher von Reggae-Sound begeistert war und so etwas auch machen wollte. Und dann einfach machte. Und damit erfolgreich war. Und es völlig ok ist.
Til Biermann weiß nicht, wo er steht: Er kennt sich aus in der Szene, aber nicht mit Musik. Er war auf Jamaika, aber kann den globalen Aspekt von Reggae nicht einschätzen. Viel recherchieren muss er nicht, um den Superstar für den welt.de-User mit vermeintlichen Insider-Infos zu entzaubern: Tilmann Otto (höhö, blöder Name), Pfarrersohn (wie uncool) aus Osnabrück (wie uncool!). Seine Geschichte hat Gentleman nie verschleiert und sein Vater war sogar schon im Quiz-Taxi.
Es wird auch nicht klar was Biermann so an Gentleman’s Beziehung zu Religiosität stört, seiner Analyse zufolge komme im Album „immer wieder der Pfarrersohn durch“ – Als ob man jetzt nur noch als nicht-Pfarrersohn Spiritualität in Musik ausdrücken dürfe. Was ist überhaupt so schlimm daran, wenn man Pfarrersohn ist – oder ist das Wort einfach nur skurril genug, um es in die Überschrift zu schaffen?
Über die Musik selbst erfährt man denkbar wenig: „Eurotrash-Reggae“ dichtet Biermann ihm an, „Plastikmusik“, zwischendurch „immerhin ein satter Roots Reggae“ – erstaunlich nichtssagende Formulierungen für jemanden der den Mund so weit aufreißt: Selbst Ausdrücke wie „Alibi-Patois“ oder „Pseudo-Reggae“ traut sich der völlig unbekannte Autor übermütig zu. „Immerhin auf Platz 1“ sei das letzte Album gestiegen – Platz 1 in den deutschen Album-Charts? Neutral betrachtet ist das „immerhin“ eine ziemlich dicke Nummer. Zur Information für alle, die „New Day Dawn“ noch nicht hören durften: das professionell produzierte Reggae-Dancehall-Album spiegelt die aktuellen Möglichkeiten der Musik auf internationalem Level wider und bleibt immer ehrlich: Das ist Reggae! Und es ist großartig.
Erfahrenen Köpfen der Szene, die sich seit Jahren intensiv und völlig ohne Erlaubnis von Herrn Biermann mit der Musik beschäftigen scheint, der Autor habe grundlegende Diskussionen und Entwicklungsschritte der letzten Jahrzehnte verpennt: Die „Mein Reggae ist echter als dein Reggae“ – Haltung war schon lange überwunden geglaubt. Auch sollte in das Allgemeinwissen eingegangen sein, dass Gentleman international und in Jamaika selbst total gefeiert wird. Wir dürfen also stolz sein. Dazu hat er zusammen mit der jamaikanischen Producer- und Sänger-Legende Richie Stephens erst im letzten Jahr mit „Live Your Life“ ein „down-to-earth“-authentisches Reggae-Album veröffentlicht, welches zu den besten Produktionen des jungen Jahrzehnts gehört. Und zwischendurch hat „Otto“ auf den größten Bühnen der Welt vielen Menschen Reggae nahe gebracht. Welche Rolle das neue Album „New Day Dawn“ nun einnimmt, sollte daher jedem publizierenden Kritiker eindeutig klar sein.
Da hat er sich übernommen, der Biermann. Aus Übereifer wild kritisiert und am Ende kommt nur Buchstaben-Torf bei heraus: ein Artikel in einem Mainstream-Medium, den die Heads nicht feiern und der normale Leser nicht einmal versteht. Außer das „Pseudo-Reggae“ in der Headline. Danke Til. Deinen Kampf gegen Reggae Musik führst du richtig gut.
Ok, wollen wir kurz so tun, als sei der Artikel nicht nur völlig verschwendete Speicherkapazität:
Ja, über die Jahre liefert Gentleman manchmal Songs ab, die auch nicht besser sind als durchschnittliche jamaikanische Produktionen. Wenn das ein Vorwurf ist: Ok. Dafür hat er internationale Hits und liefert immer gute Produkte ab. So arbeitet man als Musiker. Seine Berechtigung als Künstler steht völlig außer Frage.
Ja, Gentleman verwendet auch Plattitüden. Schon im letzten Album „Faces“ auf „Places“ zu reimen, war nicht besonders anspruchsvoll. Und er greift auch gerne in den Reggae-Lyrics-Baukasten. Geschmackssache? Und dadurch sagt er Kompliziertes einfach und schnell. Jemand, der seine Texte dann immer noch falsch transkribiert und nicht weiß, wie man Vybz Kartel richtig schreibt, sollte auf jeden Fall nicht mit dem Finger zeigen.
Ja, als Sprachrohr für Reggae könnte er auf der Bühne auch mal auf Deutsch mit den Leuten reden. Früher galt das als extrem uncool und zwischen Deutsch und Englisch zu wechseln passt auch nicht immer. Dennoch: es würde sicher einige freuen.
Auch wenn das Album nicht schmecken mag, Til Biermann schwingt hier das Schwert der real-gebliebenen Reggae-Nazis: Beschreiben und dann die eigene Meinung als solche kund tun wäre fair gewesen. In diesem Fall wurde die mediale Macht durch persönlichen Kleingeist völlig verplempert. Schade. Aber das Volontariat ist ja bald vorbei.
Text von Paul Spurny für The Meinung auf Jugglerz.de
Opinions expressed are not neccesarily those of JUGGLERZ.